Neues Deutschland, 26.04. 2010
Von Herbert Wulf und Johannes M. Becker
Krieg darf kein Mittel der Politik sein
Die aktuelle offizielle Friedens- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik
Deutschland droht vorrangig zur ausschlie§lichen MilitŠrpolitik zu verkommen.
Zwar ist weiterhin von internationaler Verantwortung fŸr den Frieden, von der
Notwendigkeit der AbrŸstung und RŸstungskontrolle, von ziviler
KrisenprŠvention, vom Schutz der Menschenrechte und von
Entwicklungszusammenarbeit als Instrument zur †berwindung von Armut und
Konflikten die Rede, doch in der Praxis sind die PrioritŠten eindeutig
zugunsten des Einsatzes von StreitkrŠften gesetzt.
Heute werden weltweit Ÿber 1500 Milliarden US-Dollar fŸr RŸstung
aufgewendet – zwšlf mal mehr als die offizielle Entwicklungshilfe. Und
die RŸstungsetats steigen weiter. Wenn auch LŠnder wie China, Russland und
Indien hohe Zuwachsraten ihrer MilitŠrhaushalte aufweisen, so sind es dennoch
die NATO-LŠnder, die fŸr fast zwei Drittel der weltweiten Ressourcenverschwendung
fŸr das MilitŠr verantwortlich sind. Konkrete AbrŸstungsschritte, ob bei den
MilitŠrausgaben oder bei den Atomwaffen, mŸssen vor allem bei den LŠndern
erfolgen, die am meisten fŸr das MilitŠr ausgeben und Ÿber Atomwaffen verfŸgen.
Es reicht nicht, vor den Gefahren der Nuklearproliferation (Iran,
Nordkorea, Pakistan, Terrorgruppen) zu warnen und diese LŠnder und Netzwerke an
den Pranger zu stellen; es ist vor allem erforderlich, vor der eigenen HaustŸr
zu kehren und endlich damit zu beginnen, was bereits im Atomwaffensperrvertrag
im Jahr 1970 vereinbart wurde, nŠmlich ernsthaft Ÿber die Abschaffung aller
Atomwaffen zu verhandeln. Die EuropŠische Union, die sich selbst gerne als
Friedensmacht tituliert, sollte hier eine kraftvolle Initiative ergreifen. Auch
die franzšsischen und britischen Atomwaffen – ein Tabuthema in der EU
– gehšren auf die friedenspolitische Tagesordnung. Dies wŸrde die
GlaubwŸrdigkeit der geŠu§erten Sorgen z. B. betreffend Iran enorm erhšhen.
Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten seine RŸstung enorm
effektiviert und auf die Herstellung einer umfassenden InterventionsfŠhigkeit
umgestellt; diese Politik geht auch in der tiefen Krise des Kapitalismus und
der šffentlichen Haushalte weiter, wŠhrend beispielsweise im Bildungssektor
tiefe Einschnitte vonstatten gehen.
Unser Land liegt seit einigen Jahren im Export gro§er Waffensysteme nach
den Statistiken des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI weltweit
nach den USA und Russland an dritter Stelle – und dies bei angeblich
restriktiven RŸstungsexportregelungen. Deutsche Waffen werden heute auch in
Krisenregionen exportiert, so beispielsweise auch an einige LŠnder im Nahen und
Mittleren Osten. Es bedarf einer radikalen Revision der deutschen
RŸstungsexportpolitik mit einem strikten Verbot von Exporten in Krisengebiete,
um glaubhaft eine auf SolidaritŠt beruhende internationale Friedenspolitik
vertreten zu kšnnen.
System fŸr Frieden und Sicherheit
Die NATO ist als militŠrisches BŸndnis seit dem Ende des Kalten Krieges
obsolet. Diesem BŸndnis weltweite Interventionsaufgaben zuzuordnen,
konterkariert sowohl die BemŸhungen der Vereinten Nationen, als einzig legitime
AutoritŠt fŸr Frieden und Sicherheit in der Welt tŠtig zu sein, als auch ein
europŠisches Sicherheitssystem aller europŠischen LŠnder einschlie§lich
Russlands. Die Schaffung einer europŠischen Friedens- und
Sicherheitsarchitektur muss Vorrang haben, statt weiterhin die NATO zu stŠrken.
Dies dient sowohl dem Ziel, den Krieg in Europa unmšglich zu machen, als auch die
Mittel fŸr StreitkrŠfte drastisch zu kŸrzen und fŸr die dringenden Aufgaben der
Zivilgesellschaft zur VerfŸgung zu stellen.
Die EuropŠische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, so wie sie in den
vergangenen Jahren forciert und nun im Lissabonvertrag festgeschrieben wurde,
besteht weitgehend aus RŸstungslobbyismus zur Fšrderung der RŸstungsindustrie
und der Ambition zum Aufbau global einsetzbarer europŠischer StreitkrŠfte. Wenn
es bislang auch lŠngst noch nicht gelungen ist, ein solches europŠisches Expeditionskorps
zu schaffen (auch das Satellitensystem ÈGalileoÇ scheint zum Scheitern
verurteilt), so liegt dies weniger daran, dass bei den Vertretern der
offiziellen Politik Bedenken gegen ein derartiges Instrument zur Intervention
bestŸnden, als vielmehr an weiterhin vorhandenen konkurrierenden nationalen
Interessen und Egoismen in den meisten EU-MitgliedslŠndern.
Nur durch eine deutliche StŠrkung der Demokratie in Europa – nach wie
vor ist das EuropŠische Parlament zahnlos in der Au§en- und Sicherheitspolitik
– kann es zu einer europŠischen Politik kommen, die den Namen
Friedenspolitik verdient. WŠhrend der Ausbau der europŠischen StreitkrŠfte
vorangetrieben wird, fehlen demokratische Kontrollen auf der europŠischen
Ebene. Und auch der Lissabonvertrag beseitigt das Demokratiedefizit in der
Sicherheitspolitik nicht.
Die EU sollte gerade die aktuelle Weltwirtschaftskrise zum Anlass nehmen,
nicht weiter den US-Weg der AufrŸstung und des Èdivide et imperaÇ gegenŸber den
EntwicklungslŠndern zu kopieren, sondern sie sollte den Weg der BegrŸndung
neuer Èterms of tradeÇ gehen. Der Hamburger ÈArbeitskreis
KriegsursachenforschungÇ (AKUF) macht fŸr das absolute Gros der Konflikte auf
der Erde die unterschiedliche Verteilung des Reichtums aus. Die vielfŠltigen
Handelsrestriktionen, die ein Vielfaches der ÈEntwicklungshilfeÇ ausmachen,
sollten folglich abgebaut werden, AufrŸstung und RŸstungsexport sollten
gestoppt, das Gewaltmonopol der UNO Ÿbertragen werden: So wŸrde die EU zum
Modell einer neuen Weltordnung.
Einsatz von UN-StreitkrŠften
Die Charta der Vereinten Nationen regelt die Rolle der Weltgemeinschaft fŸr
die Erhaltung von Frieden und Sicherheit. Es besteht ein klar festgelegtes
Gewaltverbot fŸr die internationalen Beziehungen. Die Diskussionen um
sogenannte ÈhumanitŠre InterventionenÇ und die ÈSchutzverantwortungÇ
(responsibility to protect) werden heute zumeist dazu genutzt,
Interventionsinteressen zu verschleiern. Eine tiefe Ursachenanalyse von
innerstaatlichen Konflikten und Menschenrechtsverletzungen, eingeschlossen die
Rolle der hochgerŸsteten IndustrielŠnder, unterbleibt zumeist.
Die mehrfache Verletzung der UN-Charta macht die Weltorganisation und ihr
Gewaltmonopol nicht obsolet. Aber die heutige Zusammensetzung des
UN-Sicherheitsrates, der die MachtverhŠltnisse in der Welt aus der Zeit von vor
60 Jahren widerspiegelt, garantiert kein faires und solidarisches Verfahren zur
Mandatsfindung. Einige mŠchtige LŠnder, WirtschaftsmŠchte, Atomwaffenbesitzer,
RŸstungsexporteure, dominieren heute den Sicherheitsrat auf unakzeptable Weise.
Entscheidungen zum Schutze der Menschheit und Demokratie kommen keineswegs
demokratisch zustande. Deshalb ist eine Reform des UN-Sicherheitsrates und eine
Demokratisierung der Vereinten Nationen, eingeschlossen die unbedingt erforderliche
StŠrkung der Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), dringend erforderlich.
Zivile KrisenprŠvention
Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Zivile KonfliktprŠvention und
Konfliktlšsungen mŸssen PrioritŠt haben. KrisenprŠvention liegt an der
Schnittstelle von Au§en-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik. Im Zeitalter
der Globalisierung hat sich Au§en- und Sicherheitspolitik generell gewandelt.
Friedenspolitik kann nicht von einer Regierung oder gar einem Ministerium
gesteuert werden. Heute ist eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher
Akteure friedenspolitisch aktiv. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Strategien
und bemŸhen sich darum, dass Konflikte nicht in Gewalt eskalieren und dass
bewaffnete Auseinandersetzungen vermieden oder beigelegt werden. Zum Teil
agieren die verschiedenen Akteure allerdings mit konkurrierenden Interessen. Um
zivile KrisenprŠvention zu einem wirksamen Instrument zu machen, bedarf es zum
einen dringend zusŠtzlicher Ressourcen; derzeit wird beispielsweise in
Afghanistan fŸr den Krieg ca. 50 mal mehr aufgewandt als fŸr den zivilen
Wiederaufbau. Zum anderen geht es um eine bessere Koordinierung auf deutscher,
europŠischer und globaler Ebene. Dies ist eine Voraussetzung, um Ma§nahmen nach
dem Konzept des Èdo no harmÇ (ÈRichte keinen Schaden anÇ) durchfŸhren zu
kšnnen.
Die neue Afghanistanstrategie der Bundesregierung, mit mehr Soldaten und
mehr zivilen Mitteln (die Entwicklungshilfe fŸr Afghanistan soll verdoppelt
werden) eine Wende zu erreichen, zeigt nicht nur eine verfehlte Konzeption,
sondern auch, wie sich Politiken gegenseitig behindern. Statt eindeutig auf
einen zivilen Aufbau zu setzen, soll die zivil-militŠrische Zusammenarbeit
gestŠrkt werden. In der Vergangenheit ging dieses Konzept eindeutig zu Lasten
der zivilen Arbeit. Entwicklungsleistungen wurden zum BŸttel militŠrischer
Konzepte degradiert und in vielen FŠllen verunmšglicht. Es gilt, das Gegenteil
einer sogenannten ÈvernetztenÇ (zivil-militŠrischen) Sicherheitspolitik zu
verwirklichen.
Es gilt, die Strukturen der zivilen KrisenprŠvention und durch enge
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren die KohŠrenz ziviler
Friedenspolitik zu stŠrken, um so Voraussetzungen fŸr effektive
KrisenprŠvention zu schaffen. Es mŸssen die Institutionen fŸr ein
FrŸhwarnsystem ausgebaut und die Entwicklungszusammenarbeit von kurzsichtigen
eigenen wirtschaftlichen Interessen befreit werden, um die im Rahmen der
Vereinten Nationen erkannten Ziele (vor allem ArmutsbekŠmpfung) zu
verwirklichen. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung und Frieden bedingen
einander. Voraussetzung fŸr eine friedliche Entwicklung ist vor allem auch eine
solidarische Wirtschaftsordnung, die dafŸr sorgt, dass
Entwicklungszusammenarbeit nicht zum Pflaster fŸr die vom Kapitalismus
geschlagenen Wunden verkommt und auf Staatsverfall dann mit militŠrischen
Ma§nahmen reagiert wird. Mit solchen Ma§nahmen sollte die EU eine
Vorreiterrolle spielen, um ihrem Anspruch, Friedensmacht zu sein, nŠher zu
kommen.
Zum vorliegenden Programmentwurf
Viele unserer Positionen sind wohltuend vorzufinden im 1. Programmentwurf
der LINKEN vom MŠrz 2010. Es sollte nicht die Frage einer mšglichen
KoalitionsfŠhigkeit im Vordergrund stehen, sondern die Formulierung klarer
Positionen fŸr eine kriegs- und waffenfreie Welt.
Ein ÈUmbau der StreitkrŠfte auf der Basis strikter DefensivpotenzialeÇ kann
nur als Zwischenschritt auf dem Weg einer Abschaffung des MilitŠrs formuliert
werden; dies gehšrt u. E. in ein visionŠres Parteiprogramm.
Da der Sozialismus nicht auf der Tagesordnung steht, gilt es Wege zur
Zivilisierung des Kapitalismus zu erarbeiten. Kriege sind nicht unvermeidlich,
die Kriegsursachen kšnnen auch im herrschenden System benannt und bekŠmpft
werden – allein schon, um die Basis fŸr eine andere Gesellschaftsordnung
zu schaffen.
Der Begriff des Èneuen ImperialismusÇ scheint uns einer weiteren KlŠrung zu
bedŸrfen. Was bedeutet seine neue QualitŠt fŸr die Frage von Krieg und Frieden?
In der AufzŠhlung der Protagonisten ÈprŠventiver AngriffskriegeÇ sollte auch
Russland seinen Platz finden.
Das PhŠnomen ÈTerrorismusÇ findet seinen Niederschlag nur unzureichend. Er
ist ein reales Problem der Sicherheitspolitik, wenngleich er zumeist
legitimatorisch zur Anzettlung von Aggressionen genutzt wird. Terrorismus
sollte benannt werden in seinen Ursachen, Erscheinungsformen und den
Mšglichkeiten, ihn zu bekŠmpfen, nŠmlich durch polizeiliche, ggf.
geheimdienstliche, nicht zu vergessen kultur- und sozialpolitische Mittel und
nicht durch Kriege.
Schlie§lich sollte die VerknŸpfung von externer Aggression und interner
Repression im Programm benannt werden. Die schleichende Militarisierung unserer
Gesellschaft und die spŸrbare EinschrŠnkung wesentlicher Grundrechte im
Zusammenhang mit dem ÈKampf gegen den internationalen TerrorismusÇ, mit dem
Afghanistaneinsatz der Bundeswehr oder auch dem Einsatz vor der KŸste Somalias
geben Lehrbeispiele hierfŸr.